Hoffentlich bringen die Berliner Philharmoniker ihre eben unter Kirill Petrenko abgeschlossene Trias von Tschaikowsky-Opern auch als Box heraus. Das würde in jedem Fall eine lohnende Ergänzung, der Werk-, der Orchester- wie der Interpretendiskografien bedeuten. Nach dem martialischen Ukraine-Epos „Mazeppa“ und der jugendstil-lichten „Yolantha“ ging jetzt mit der „Pique-Dame“ dieser wichtige Zyklus eben zu Ende.
Ganz auf die Musik konzentriert, ohne Innovationsfuror fand hier klanglebendige, spontane und frische Partiturexegese statt: plastisch gezeichnete und stilrein musikgekleidete Puschkin-Figuren als wahrhaftig tönende Tschaikowsky-Charaktere.
Und es wird deutlich: Diese von Alexander Puschkin weit satirischer gestaltete, von Peter und seinem librettodichtenden Bruder Modest sentimentaler, aber genauso ausweglos geführte Geschichte einer hysterischen Spielsucht ist eine der besten, buntesten, auch charakterlich tiefschüfendsten russischen Opern. Der „Eugen Onegin“ mag psychologisch ausgefeilter, in seiner Verzichtslösung moderner sein, die Geschichte um das Geheimnis der angeblich immer gewinnenden drei Spielkarten der alten Gräfin ist melodramatischer, mitreißender, als größeres Panorama gezeichnet.
Und sie ist, das wurde gerade in diesen Tagen besonders deutlich, eine erbarmungslose Abrechnung mit dem russischen Militärmachotum, mit rohen, gewalttätigen Männerbünden, zwischen denen der arme deutsche Hermann glaubt, sich beweisen zu müssen. Die Verführung Lisas ist da nur das Mittel zum Zweck, um an deren alte Tante heranzukommen. Am Ende bleibt Hermann, der sich von einem Geist auslachen muss, der alles verloren hat, weil er seinem Wahn hinterhergerannt ist, als letzte Instrument der Ehre nur der Selbstmord. Und die Spieler und Soldaten zwischen den Glückstischen singen einen letzten, trügerischen, um die Seele eines Verlorenen bittenden Kirchenhymnus, aus dem noch einmal Hermanns Motiv der Sehnsucht aufsteigt.
Petrenko und die nach den szenischen Aufführungen in Baden-Baden bestens eingespielten Berliner Philharmoniker disponieren das brillant in luxurierend schönem, weichen, aber auch harsch knatterndem Klang. Sie können exemplarisch gehärtet und schroff auffahren, aber auch gleißend schwelgen. Sie kennen das Grelle und das Intim-Innige. Echt russisch eben, in diesen scheinbar undifferenzierten Kontrasten zwischen Anziehung und Abstoßung.
Dabei verführt Petrenko flexibel zu schneidenden, aber nie lärmigen Blechattacken, schmeichelt dem auch von Tschaikowsky so geliebten Holz, lässt die Streicher seidig strahlen, aber auch melancholisch fahl tönen. In dieser Wunderpartitur stürmt und tanzt es, da brilliert Feuerwerk und wird der Zarin gehuldigt, da wird ein Kamerad dauerverspottet, da wird die Liebe beschworen, im Boudoir mit Klavier salongesäuselt, gereizt, gebangt, gebarmt, gefürchtet. Die Gräfin lebt längst in einer Welt brüchig versunkener Töne von gestern, die Hermanns dunkelt sich immer mehr ein.
Der Armenier Arsen Soghomonyan hat ein unglaublich tränendes Tenorforte für diesen Hermann, singt seine irrlichtende Sucht mit Wucht, Druck und Verzweiflung heraus, während der kernig-kerlige, oft verachtungsvoll auftrumpfende Vladislav Sulimsky (Graf Tomski) den eindrücklichen Gegenbariton zum weichstimmig-sanften Boris Pinkhasovich (Fürst Jeletzki) gibt. Elena Stikhina hat für die Lisa die flammende Sopranemphase und die zarte Kraft des Leisen übrig, flutet ihre hohen Töne, kann tolle Piani. Und hebt sich wirkungsvoll vom dunkeln Mezzoraunen Aigul Akhmetshinas als Polina ab.
Eine Charakterklasse für sich ist dann schließlich noch Doris Soffels Gräfin, zarinnenherrisch, tongesund, facettenreich in der Gestaltung der nicht eben netten Tante. Ein verpfuschtes Schicksal selbst in der welken Primadonnen-Grandezza – auch sie. Und Petrenko umhüllt sie mit den glitzernd zwischentonreichen Spinnweben ihrer Vergangenheit. Vollkommen besetzt sind zudem alle, präzise sich unterscheidenden Nebenrollen, volltönend idiomatisch der Slowakische Philharmonische Chor und der Cantus Juvenum aus Karlsruhe.
Dessen (sowieso oft gestrichenes) kriegstreiberisches Lied zur Eröffnung im Petersburger Sommergarten mag man zwar gerade in diesen Wochen überflüssig und unangebracht finden. Anderseits legt es die Fährte aus, wann Machtmissbrauch und Gruppenzwang, Konformismus und blinder Gehorsam aus Menschen macht. Nicht nur in dieser alten Gespenstergeschichte vom Soldaten Hermann, auch in unserer Zeit.