Ein doppelter Halevy-Triumph in Genf: Das Grand Théâtre lässt auf „La Juive“ noch das Petit four „L’éclair“ folgen

Fotos: GTG/Magali Dougados

Opernarbeit an den immer teurer, für manche auch anachronistischer werdenden Palästen der Gefühle, die gleichzeitig auch Musikmaschinen, Tonfabriken und Irrenhäuser sind, das ist vor allem Pflege der Geschichte, liebevoll aufbereitetes Festhalten am Vergangenen, Kultur des Erinnerns. Wer dem ewig Gleichen, der Mühle des Repertoire-Getriebes entkommen will, wo jede Tradition allerschnellstens zur Schlamperei verkommt, der versucht sich an Ausgrabungen, Wiedergutmachungen, Neuentdeckungen.

Das mag gelingen wie bei der unerhörten Revitalisierung der Barockoper als einem post-modernen Fest der puren, zielgerichteten Emotion und Staunen machenden Imagination. Es mag auch ein schwieriges Geschäft sein wie bei der ächzend betriebenen Exhumierung der ältlichen Dame Grand Opéra, über die unerbittlich die Zeit hingetrampelt scheint, die abgelöst wurde durch das Gesamtkunstwerk Wagner, den großen Strauss-Rausch und die ubiquitäre Musical-Maschinerie als Surrogat für den kleinen Musikhunger zwischendurch.

Doch trotzdem lassen sich viele Häuser von dieser Mission nicht abbringen. In Genf hat jetzt – nachdem er hier bereits vor zwei Jahren musikalisch erfolgreich Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ revitalisierte – Marc Minkowski die andere berühmte Grand Opéra dirigiert, die sich mit Ausgrenzung und religiösem Fanatismus beschäftigt: Jacques Fromental Halévys „La Juive“, seit 1926 nicht mehr in der Stadt gezeigt.

Diese Oper begann ihren neuzeitlichen großflächigen Siegeszug 1999 von Wien aus, wo – wie einige Tenöre vor ihm – der New Yorker Kantorensohn Neil Shicoff mit dem Eléazar eine späte Lebensrolle gefunden hatte. Bis heute steht diese Produktion dort auf dem Spielplan, auch wenn eine aktuelle Serie eben abgesagt wurde, weil zwei Starsänger ausfielen und – ein Armutszeugnis für das Riesenrepertoire- und Ensemblehaus Staatsoper – angeblich nicht ersetzt werden konnten.

New York und Paris, Zürich, Lyon und Nürnberg, Stuttgart und Venedig, Dresden, Antwerpen (wo sie Genfs Grand Théâtre-Intendant Aviel Cahn bereits einmal terminiert hatte), München und Mannheim und Hannover sowie diverse andere Theater spielten seither ebenfalls „La Juive“. 2016 stand das Werk sogar gleichzeitig an vier Bühnen auf dem Spielplan. In ein paar Wochen kommt es in Dortmund heraus.

Die 1835 uraufgeführte „Jüdin“, sie ist ein Kunstkind der liberalen Jahre des Bügerkönigs Louis-Philippe. Ein schlagkräftiges Stück, das 100 Jahre lang reüssierte, geschätzt von Berlioz, Mahler und sogar vom Franzosen- und Judenhasser Wagner (der daraus reichlich klaute), welches dann aber nicht nur wegen der Nazis von den Spielplänen verschwand. Zu krude, auf den puren Überraschungseffekt hinauslaufend ist der Plot vom Librettofabrikanten Eugène Scribe um die Jüdin Rachél, die (wie bei Lessings „Nathan“) keine ist, sondern die totgeglaubte Tochter des nunmehrigen Kardinals Brogni, vom Goldschmidt Eléazar aus einem Feuer gerettet. Sie alle treffen beim Konzil in Konstanz 1414 wieder zusammen.

Erstmals standen hier Juden nicht als biblische Chimären auf der Bühne. Sondern als handelnde Personen mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Der Jude ist böse. Auch die Christen sind grauenvoll. Religion ist zunächst eine Sache der Väter. Dem ungleichen Liebespaar ist sie eigentlich egal. Was sich als tödlicher Fehler erweist. Das junge Genre Grand Opéra fand hier einen packenden Stoff. Historie, Kaiser Sigismund, Schisma, Hussitenkriege. Pomp, Singzirkus und Tanz. Ein Blockbuster des 19. Jahrhunderts. Aber eben nicht nur.

Eléazar ist der eigentlichen Christin Rachel ein liebender Vater. Aber die Religion geht ihm über menschliche Nähe. Er ist aus Verletztheit genauso verblendet und fanatisch wie die Christenmeute und auch geldgierig – um es ihnen heimzuzahlen. Halévy und Eugène Scribe, gelang so trotz oder wegen der Klischees einer der bahnbrechenden Opernstoffe: dramatisch, sentimental, aktuell, kämpferisch, ehrlich. Keiner kommt hier gut weg, alle sind sie, wie stark auch immer im unversöhnlichen Glauben, doch nur schwache Menschen.

Als Katalysator für das tödlichen Ende der als pervertierte Taufe in einem Kessel brühenden Wassers getöteten Rachél fungiert der Reichsfürst Léopold, der sie unter falschem Namen liebt, seine Religion verbergend und seine Frau Eudoxie nebst Familie verleugnend.

Der Mann als Schwein, die Frau als Opfer, der Christ als melancholischer Fanatiker, der Jude als verbitterter Außenseiter. Das sind Schablonen, vor große, zitternd ausbrechende Chortableaux gestellt. Abwechslung. Kontrast, Kitzel. Mitfühlen selten. Doch Halévy unterläuft die sich erst formende Tradition, findet in mollklagenden Englischhörnern, rührenden Duetten und individuell geformten Soloszenen Momente der Anteilnahme.

Tausende Vorstellungen schaffte es dieses einst unvorstellbar populäre Werk bis 1933 auch in Deutschland – dann riss die Juive-Kette ab. Antisemitismus, sich wandelnder Zeitgeschmack, aber auch Ignoranz sind dafür verantwortlich. Vor allem musste das einst so bedeutende, dann als Dinosaurier geschmähte Genre Grand Opéra erst wieder exhumiert, studiert und poliert werden. Das ist inzwischen geschehen. Und so wird auch in Genf die „Juive“-Botschaft verstanden und beifallskräftig gefeiert.

Zunächst ist da einmal David Aldens zupackend deutliche, auch die Überzeichnung nicht scheuende, knallige Effekte setzende Regie. Der kann so große, mitunter grobe Stoffe. Zwischen den hellen Holzwänden, die Gideon Davey mal mit Erker, Werkstattfenster oder Blümchentapete zum Pessachfest auf die Bühne kantet, sehen wir den von Jon Morrell in schwarze Biedermeiersilhouetten aus Krinoline und hohem Zylinder gekleideten Chor: eine austauschbare, böse Christenmasse; oft bewaffnet und behängt mit ostentativen Symbolen ihrer Religion. Fratzenhafte Halbmasken entstellen sie zudem karikaturenhaft. Die Juden hingegen wirken unscheinbar, höchsten die Kipa weist sie, die da ein schweres, später brennendes Kreuz tragen müssen, als die Unterdrückten des angeblich auserwählten Volkes aus.

Eléazar im schwarzen Anzug und Rachel im grünen Mantel verweisen auf die Dreißigerjahre, ebenfalls die lungernden, brutal zuschlagenden Polizeischergen, angeführt vom dem korrupten Ruggiero/Albert (Leon Kosavic). Die alle werfen immer wieder expressive Schlagschatten. Der Kardinal Brogni des basssatten Dimitry Ulyanov wird von einem barfüßigen Domestiken ganz allein in seiner Kutsche gezogen. Ihm kommt allmählich der klerikale Pump abhanden, während der ebenfalls von nur einem Kuli geführte stummen Kaiser Siegmund als goldstrotzende Machtikone nur im Hintergrund steht, oder zum Katastrophenenthüllungspunkt im dritten Akt alle in seine Endlosschleppe verwickelt.

Léopold (höhensicher tapfer und fluide gesungen von Ioan Hotea) verwandelt sich schnell in einer von Rachel (die lyrisch zupackende, intensive Ruzan Mantashyan) sich auch optisch entfernende goldene Fantasiegestalt, die am Ende, obwohl von Rachel erst öffentlich angeklagt, dann gerettet, ganz aus der Story verschwindet.

Die Eudoxie der verziehrungsfesten, hell trillernden Elena Tsallagova wird hier endlich einmal ernstgenommen. Obwohl denunziert als prunksüchtiges Rokokopüppchen im kanariengelben Pelz oder in silberner Robe, wird ihre große Szene mit den vier stolz vorgeführten Kinderlein und dem als halbnackter Latinlover in weißem Satinbett auf einer Theaterbühne herbeigeträumten untreuen Gatten optisch wie musikalisch zu einem Höhepunkt. Auch weil Alden und seine beiden Darsteller es schaffen, diesen beiden nur die tragische Handlung vorantreiben müssenden Figuren eine anrührende Sinnlichkeit zu verleihen.

Der starke, von Alan Woodbridge einstudierte Chor wir immer mehr zum Tod der Juden fordernden Handlungsträger. Nach dem katastrophalen Umschwung verdüstert und verengt sich die Bühne zum (KZ?-)Kerker. Hier wird um Leben gerungen. Eudoxie ist erfolgreich, geht aber dann noch vor den beiden Hauptprotagonisten für den geretteten Gatten in eine Art von Gaskammer-dampfendem, leuchtendem Wellblechkrematorium, unter dem sich schon weiße Asche häuft.

Grand-Opéra-Finales sind immer kurz und knapp. Doch vorher haben noch Elézar und Brogni eine packende Auseinandersetzung. Und der tolle John Osborn singt nicht nur seine englischhornumflorte Szene „Rachél, quand du Seigneur“ als Moment der gebrochenen Verzweiflung, sondern auch die oft gestrichene wilde Cabaletta. In dieser Caruso-Rolle ist er ganz Verbitterung, schneidende Ablehnung, ein wütender Ahasver, gehetzt von den Furien des Antisemitismus. Ihm gelingt die emotionale Tiefenbohrung dieses gequälten, ambivalenten, am Ende grausamen Vaters und eben auch Juden. Wie Osborn das spielt und singt – das ist Grand Opéra und höchste Wahrhaftigkeit.

David Alden kitzelt in seiner klaren, dichten Inszenierung das Verstörende und das Verführerische der Vorlage heraus, findet Wahnwitz und Wahrheit der Geschichte, Finesse und Fanatismus der Religionen. Unterstrichen wird solches von Marc Minkowski, der aus dem Orchestre de la Suisse Romande mitunter ein rauschhaftes, auch brutales Klangbild abfordert, das allerdings auf der Wärme der Holzbläser gründet. Bei Halévy stehen dekoratives Arien-Geklingel und zähe Chorpassagen neben grellen, dramatisch packenden Kontrasten und einer – trotz Eugène Scribes kolportagehaften Libretto-Elementen – realistisch aufwühlenden Menschenzeichnung. Minkowski zeigt das alles ideal auf, entfaltet ein farbenreiches, gehaltvolles Klangpanorama, holt ohne Mühe das Maximum aus dieser ungleichgewichtigen, aber an den entscheidenden Stellen grandios-tragischen Tonvorlage.

Man ist ergriffen. Und plattgemacht. Gleichzeitig. Von der Gewalt und Größe dieses Stückes. Das Triviales und Geniales vereint, billigen Pomp und exquisite Intimität, das am heftigen Hebel der Effekte dreht, sich aber auch total auf die einzelne Emotion zurückzunehmen vermag. Große Oper – Grand Opéra. Bejubelte Volkskunst des 19. Jahrhunderts in der Opernhauptstadt Paris. Und dabei, der pioniermutige Halévy und sein Librettist konnte das 1835 nicht ahnen, nur vermuten, ein bis heute leider sehr aktuelles, visionäres Stück totalen Musiktheaters – reißerisch und melancholisch, anrührend und abstoßend, mit platten und gemischten Charakteren. Eine Provokation, eine wütende Anklage, immer noch. Als Chronik der Intoleranz und Ausgrenzung.

Und so packt auch diese „Jüdin“ als pompöses, auch bisweilen trivial erzähltes Geschichtstableau das Publikum, begeistert und reißt nicht nur wegen ihrer beklemmenden Aktualität zu Ovationen hin. Dreieinhalb sehr politische Opernstunden an durchaus gustiöser Spektakelsauce werden zum Musiktheaterkrimi. Man begeistert sich an der ungekannt cleveren Kolportage mit ihrem strengen Humanismus. Und so setzt sich der schüchterne, aber nachhaltige Siegeszug der „Juive“ eindrücklich fort.

Schon der wüste Antisemit Richard Wagner lobte Halévy für seine grandiose Musik, die „aus den innersten, gewaltigsten Tiefen der reichsten menschlichen Natur hervorquillt“. Soweit muss man nicht gehen, aber er ist ein spannender Komponist. 40 Opern hat er komponiert, heute wird er reduziert auf die eine. Cecilia Bartoli hat immerhin bei ihrer Beschäftigung mit Maria Malibran 2008 das italienische Frühwerk „Clari“ (1828) auf DVD festgehalten (ebenfalls mit John Osborn), die Fondation Palazzetto Bru Zane hat die gerühmte Grand Opéra „Le Reine de Chypre“, auf deren Stoff auch Donizettis „Catarina Conaro“ zurückgeht und deren Klavierauszug Wagner als Lohnarbet erstellte, 2017 in Paris konzertant gegeben und luxuriös aufgenommen.

Und in Genf bietet man als deliziöses Zuckerl konzertant zudem die im „Juive“-Jahr 1835 komponiert opéra comique „L’éclair“, die es immerhin auch schon mal in den frühen Neunzigern in Ulm als „Der Blitz“ auf die Bühne gebracht hat. Nicht zu verwechseln freilich mit „La tempesta“ von 1850, die auf Shakespeares „Sturm“ zurückgeht und dieses Jahr beim Wexford Opera Festival ansteht. Ach ja, eine auf Merimées Übersetzung der Puschkin- „Pique Dame“ hat Halévy lange vor Tschaikowsky ebenfalls komponiert.

Zum „Blitz“, diesem zweistündig fein mundenden, lockeren Buffa-Soufflé über zwei Damen und Herren auf dem Land bei Boston, die natürlich trotz allfälliger amouröser Verwechslungen infolge einer zeitweiligen Erblindung durch das titelgebende Wetterleuchten wie viel seufzersüchtiger Liebesbekundungen final zueinanderfinden, hat das Orchestre de Chambre de Génève gutgelaunt im Graben Platz genommen. Guillaume Tourniaire, ein Spezialist für diese Musik, lässt es moussieren und funkeln, nutzt aber auch die Perkussionsbatterie inklusive mächtigem Donnerblech für das folgenreiche Gewitter zum Ende des ersten Aktes.

Zwei weitere Akte lang müssen äußerst melodiekurzweilig dessen körperliche wie emotionale Schäden behoben werden. Das vollführen die Damen Eleonore Pancrazzi (Madame Darbel) mit spitzen und Claire de Sévigné (Hneriette) mit gerundetem Sopran sehr fidel. Und auch die höhensicheren Tenöre Edgardo Rocha (Lionel) – etwas verkühlt, deshalb mit zusätzlichem Dialogsprecher – und Julien Dran (George) lassen locker die hohen Noten perlen und stricheln eloquent-ebenmäßige Legatolinien. Ein leichtgewichtiger Spaß – und Jacques Fromental Halévy kann sich einmal von einer anderen, heiteren, dezent komischen Seite zeigen. So vertieft sich am Grand Théâtre du Génève ein klug vorgeführtes Komponistenbild. Nur ausgerechnet im Dreiopernhäuser-Berlin, da wartet man immer noch auf ein Wiedersehen mit „La Juive“…

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