Gibt es eine neue Opernstream-Ästhetik? Eher intellektuelle Ödnis von Zürich bis Genf und Paris

Foto: Marco Brescia & Rudy Amisano

Es gibt Pizza. Ist aber keine im Karton. Nur ein flacher, geschmacksneutraler Foto-Dummy. Erwischt! Das sehen wir, nun illusionslos, als die Kamera die vierte Wand durchbricht und nach Ende dieser ansonsten kreuzkonventionell abgefilmten „Orphée ed Eurydice“-Streampremiere kurz hinter die Bühne im Zürcher Opernhaus kommt, die sich beglückwünschenden Mitwirkenden, den winkenden Regisseur Christoph Marthaler und eben auch ein paar Theatertricks.

Ein Ende des zweiten Lockdowns ist für die sich von der Politik stiefmütterlich behandelt fühlenden Künste immer noch nicht absehbar. Knapp ein Jahr seit der Einstellung jeglicher Form von normalem Spielbetrieb, fast vier Monate seit noch rigoroser in Deutschland so gut wie jegliche Bühnenaktivität von den Kulturministerien untersagt wurde, ist man immerhin im Streaming geübt. Zumindest sind es die Häuser und Orchester, die es sich leisten können. Allein letzte Woche gab es neue Kreationen via Internet aus München, Berlin, Stuttgart, Zürich, Paris, Wien, Genf, Houston, darunter die ungewöhnliche Uraufführung eines sehr besonderen Liedzyklus und die erste Mozartopernregie des als Theaterguru gefeierten Schweizers Milo Rau.

Wie aber sieht das ästhetisch aus jenseits des bühnenkünstlerischen Wollens? Hat sich letzten zwölf Monaten auch optisch etwas bewegt, sucht man nach neuen Wegen der bildlichen Vermittlung an die da draußen? Werden die ausgegrenzten Zuschauer zu Hause miteinbezogen? Oder will man nur bildlich dokumentieren und vermitteln, was man sich auf den Probebühnen ausgedacht hat? Immerhin: die 500 Livestreams im Arte-Programm wurden 75 Millionen Mal abgerufen. An der Berliner Staatsoper erreichten die Streams bis zu 20.000 Menschen aus 48 Ländern in 24 Stunden. Und Online ist das Publikum jünger. Die zweitgrößte Zuschauergruppe zählt zwischen 25 und 34 Jahren. Da lohnt es sich doch, mal  vergleichend virtuell opernweltzureisen.

Foto: Monika Rittershaus

In Zürich, wie gesagt, wird ganz normal frontal opernabgefilmt. Nur anfangs ist zu sehen, dass das Orchester und der kraftvoll vorwärtstreibende Dirigent Stefano Montanari im kilometerweit entfernten Probenraum sitzen und der Ton per Glasfaserkabel ins leere Theater überspielt wird. Während der Gluck-Aufführung wird daran nicht mehr erinnert, geschweige denn von der TV-Regie mir dieser Tatsache gespielt. Stattdessen zeigt sie erwartbar, wenn man die Musiktheaterzurichtungen von Marthaler kennt, ein spießiges Tapetenzimmer samt amerikanischem Diner in den Nischen. Wir kennen diese nostalgisch-surrealen, diesmal zudem zu dunkel ausgeleuchteten Räume.

Christoph Marthaler führt einmal mehr das stehende Nichts vor. Ober und Unterwelt- sind austauschbar shabbychic. Darin ergehend sich meist zuckend und stumm sieben selige wie unselige Geistermimen zwischen Verweigerung, Wunschkonzert für die Tante im Altersheim und ein wenig Cocteau-Existenzialismus. Die Urne der toten Eurydice wird im Aufzug rauf und runter gefahren, irgendwann explodiert ihr Deckel. Die russische Mezzosopranistin Nadezhda Karyazina singt zwar mit flammend-satter Stimme den Orpheus. Doch darstellerisch muss sie passiv in einem gelben, unkleidsamen Pullunder als androgynes Wesen verharren. Der Amor der koloraturreizenden Alice Duport-Percier ist weiblich mit Chanel-Pünktchenkopftuch. Er bekommt zudem eine Pergolesi-Arie geschenkt und feudelt während des „Ach ich habe sie verloren“-Lamento des Orpheus den Boden. Marthaler halt.

Wie halten es überhaupt die Regisseure mit dieser neuartigen Form der Vermittlung? Die meisten haben nur ihre üblich dekonstruierte, jahrelang vorgeplante Bühnenzurichtung beibehalten. Schließlich wird hier für hoffentlich bald wieder bessere Zeiten im mit Menschen gefüllten Theater auf Repertoirevorratshaltung produziert. Abrufbar bei nächstmöglicher Öffnung. Die zweidimensionale Ad-Hoc-Realität ist da nur vorwegnehmende Nebenwirkung. Und wirkt trotzdem so superarrogant wie selbstbezogen in dieser gerade jetzt sehr kostbaren Darstellungsmöglichkeit per Internet, die keine wirkliche neue Normalität werden will.

Foto: Bernd Uhlig

Die dazu führt, das Italiens bester Opernregisseur Damiano Michieletto innerhalb einer Woche gleich zweimal vorkommt. Aus der Berliner Staatsoper mit einer neuen, dieser Tage auch regulär geplanten „Jenufa“, die der Wiederholungstäter Simon Rattle mit weicher, transparenter Emphase dirigiert. Die mährische Bauerntragödie im neutralen Kubus aus milchigen Plastikpaneelen bei der die liebend kindsmordende Küsterin und ihre verlorengeglaubte Ziehtochter Jenufa durch die sich an ihnen festsaugenden Kameraobjektive noch mehr ins archetypisch Überzeitliche überhöht werden: Evelyn Herlitzius ist die sich verzehrende, herb-harsche Stiefmutter. Camilla Nylund ist Jenufa, die auftrumpfen und sich verinnerlicht zurücknehmen kann. Stark die beiden rivalisierenden Tenöre Ladislav Elgr und der wuchtigen Stuart Skelton.

Die Staatskapelle ist etwas verkleinert, man sieht den nur momentlang wichtigen Chor im leeren Zuschauerraum sitzen. Aber Damiano Michieletto hat das uneitel und auf das Eigentliche konzentriert gestellt. Bänke gemahnen an eine Kirche, auch Kerzen und eine Monstranz sind vorhanden. Über allem dräut ein Eisblock, unter dessen Schmelzwasser am Ende die reuige Küsterin stehen muss. Doch es wird dauern, bis hier die Menschen auftauen. Sonnenlicht verheißt zumindest Hoffnung.

Foto: Marco Brescia & Rudy Amisano

An der Mailänder Scala ging man im Februar kurz vor Michielettos „Salome“-Neuproduktion in den Lockdown. Jetzt ist das dort die nachgeholte erste, freilich fast komplett umbesetzte  Opernnovität seit einem Jahr. Hier mischt die Regie Weiß und Schwarz auf der Bühne, statt des Eisbrockens gibt es bisweilen eine riesige Kugel als Memento-Monumentalrequisit. Und rote Fäden als das stilisierte Blut des Propheten Jochanaan. Da ist die dysfunktionale Familienaufstellung am Edelesstisch und das Ringen eines Teenagers mit seinen unmöglichen Eltern. Elena Stikhina kämpft glanzvoll mit diesen wie mit den deutschen Konsonanten. Am tollsten tönt es aber von den über 100 rauschhaft und trotzdem hygienekonform sich entfaltenden Scala-Musikern unter Riccardo Chailly. Deren weichgefächerte Aufstellung im komplett leergeräumten Parkett des weltberühmten Theaters liefert den RAI-Kameras die eigentlich ikonischen Bilder.

Foto: Vincent Pontet

Nicht weiter die technischen Zeugen in den Fokus nimmt hingegen die konfus-dilettantische „Aida“-Deutung von Lotte de Beer in Paris. Die verliert sich im schlechten Gewissen zwischen Kolonialmuseum, zweitem Kaiserreich-Plüschlook, lebenden Bildern der Kriegsikonographie im Triumphmarsch und – #Blacklifematters – von gleich drei Spielern geführten Puppen für die schwarzen Charaktere Aida und Vater Amonasro. Hier gaukeln Nahaufnahmen eine Intimität vor, die man in dem Riesenkasten der Opéra Bastille nie hat. Dem pfundigen Jonas Kaufmann als gaumig klingender Radamès (ist ein Ägypter keine Person of Colour?) der dauernd seine pompejanische Lavaleiche Aida ansingen muss, würde man sonst nie so auf den neuerdings faltenfreien Tenorpelz rücken. Man begeistert sich an den pastosen Amneris-Tönen der immer mehr aus dem Regiefokus rückenden Ksenia Dudnikova und bedauert die individuell, freilich etwas ältlich tönende Sondra Radvanovsky als Aida und den besten der gegenwärtigen Verdi-Baritone, Ludovic Tézier. Die dürfen, weil von weißer Hautfarbe, nur neben Pappkameraden singen, aber nicht spielen.

Foto: Wilfried Hösl

Um wieviel lebendiger ist da inzwischen die Kameraführung der Bayerischen Staatsoper bei deren regelmäßigen „Montagsstücken“. Da wird die leere Bühne wie der atmosphärisch ausgeleuchtete Zuschauerraum originell abgetastet und eingefangen: zuletzt mit der grandios wandlungsfähigen Dagmar Manzel und dem präzise rhythmisierende Vladimir Jurowski in Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“. Und auch ein Krill-Petrenko-Akademiekonzert mit den Ersten Sinfonien von Beethoven wie Schostakowitsch gewinnt durch das Abtasten seines bewegten Gesichts. Während sich bei seinem Digital-Concert-Hall- Stream aus der Berliner Philharmonie als Auftakt von deren halbwegs ins Digitale geretteten Zwanziger-Jahre-Festival mit dem grandios sich entfaltenden „Oedipus Rex“ neben Petrenkos sprechender Mimik, Bibiana Beglaus rauer Rezitation und Michael Spyres‘ kunstvoll gequälten lateinischen Tenorleidenstönen vor allem die düster bestrahlten Zentralperspektiven der Scharoun-Konzertkathedrale von oben einprägen.

Gekonnt auch inzwischen, wie man in Stuttgart mit kleinen und großen Vieoformaten operiert. Nach dem mutig virtuellen, total immersiven Opernball am Faschingsdienstag präsentiert man eine so lebendige wie schräge, von vorn wie hinten mitgeschnittene „Verzauberte Welt“ à la Ravel in der schrägen Sicht von Schorsch Kamerun – samt Watch Party und Nachgespräch. Kameruns Motto „Ich will böse und frei sein“ gilt inzwischen für fast alle Online-Aktivitäten der Schwaben; die freilich auch zur Nettigkeit bereit sind!

Foto: Michael Pöhn

Nichts Neues aus der täglich mit Archivmaterial präsenten Wiener Staatsoper bei der dort als Novität angepriesenen „Carmen“ von Calixto Bieito. Die tingelt schließlich seit über 20 Jahren durch Europa. Anita Rachvelishvili singt bombig, Piotr Beczala elegant. Und immerhin kann die ORF-Galgenkamera im leeren Auditorium mal in der Halbtotale mit Obersicht ranzoomen.

Ungewöhnlich ist hingegen die Online-Geburt eine halbstündigen Liedzyklus von Jake Heggie für die Houston Grand Opera. Dessen gewohnt illustrativ schmeichelnder Tonduktus wird durch die acht „Songs for Murdered Sisters“ konterkariert, die Margaret Atwood getextet hat. Drängend gesungen und angeregt hat sie der feine Bariton Joshua Hopkins, dessen Schwester zusammen mit zwei anderen Frauen 2015 der tödlichen Gewalt ihres eigenen Partners zum Opfer fiel. In einer Kammerorchester- wie einer Klavierversion existierend, wurde jetzt erstmals auf der Opernwebseite die Pianofassung wie ein 25-minütiges Musikvideo gestreamt. In einem verlassenen Bahnhofsgebäude steht ein leerer Stuhl, hinter Hopkins und klavierspielendem Komponisten glüht eine Farblichtkasten, der die packende Atmosphäre verstärkt. 

Foto: Carole Parodi

Hier wird mit wenig viel erreicht, alle habe ein klar fokussiertes Thema. Das kann man vom spannungsvoll erwarteten Operndebüt von Bühnendiskursmufti Milo Rau nicht sagen. Abgesehen davon, dass der Live-Stream des Genfer Grand Théâtre zunächst technisch schwächelte, geriert die thematisch überverdichtete Absicht Raus mit Mozarts zu Revolutionszeiten anlässlich einer Kaiserkrönung uraufgeführten, längst unmodischer „La Clemenza di Tito“ unter einer Anhäufung von Bedeutungsebenen schnell aus dem distanzierten Zuschauerblick.

„Kunst ist Macht“ steht da auf der mit Castorf-Trash vollgemüllten Simultanbühne. Und dann gehen die singenden Artisten mit ihrem Vergebungstick über von echten Flüchtlingen dargestellte Statistenleichen. Gesungen wird mittelgut, Dirigent Maxim Emelyanychev bleibt auch mit viel Rasanz akustisch nur im Hintergrund. Als Insiderjoke sieht die Intrigantin Vitellia aus wie Performance-Domina Marina Abramovic, die erst kürzlich in München operngescheitert ist. Sonst kapiert man gar nichts, dafür gibt es Immigrantenbiographien und kongolesische Schamanengesangseinlagen. Auch ein Plastikherz wird als einender Fetisch weitergereicht. Dafür wird das dank der Livekameras aus diversen Perspektiven gezeigt. So bekommt die abgefilmte Inszenierung noch einen Blickwinkel mehr. Langweilig ist sie trotzdem.

Ob dieser Intellektuellen-Inzest nach dem Lockdown weniger wird? Dann, wenn kein Geld mehr da ist?

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